Im Orbit von Op. 109
Gedanken zur Musik – von Víkingur Ólafsson

Spielt man ein ganzes Jahr lang nahezu nichts anderes als Bachs Goldberg-Variationen in den unterschiedlichsten Konzertsälen überall auf der Welt, geschieht etwas Merkwürdiges: Das Werk ergreift nach und nach von der eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit Besitz, und es drängt sich auf, dass sich tatsächlich alles als eine Folge von Variationen begreifen lässt: Orte, Ereignisse, Menschen. Bäume, Blätter, Häuser, Straßen. Gedanken und Ideen. Zellen und DNA. Alles, was aus etwas äußerst Kleinem hervorgeht, sich wiederholt, vervielfältigt und verzweigt, bis es ein hohes Maß an Komplexität erreicht – bevor es zu seinem Ursprung zurückkehrt, kleiner wird und schließlich gänzlich verschwindet. Ganze Zivilisationen.
Auf weniger frappierende, doch ebenso eindringliche Weise wird einem bewusst, wie die Goldberg-Variationen die großen Komponisten der westlichen Tradition nach Bach geprägt haben. Man entdeckt die Spuren dieser Musik in anderen Meisterwerken – in ihrer Form, ihrem Kontrapunkt, ihrem musikalischen Geist. Als ich nach einem neuen Aufnahmeprojekt suchte, fühlte ich mich unmittelbar zu einer Werkgruppe hingezogen, in der ich die Präsenz der Goldberg-Variationen auf inspirierende Weise empfand: die drei letzten Sonaten von Ludwig van Beethoven, op. 109, 110 und 111.
Ich sollte wohl ergänzen, dass ich nicht voraussetze, man müsse sich ein Jahr lang in die Goldberg-Variationen vertiefen, um zu erkennen, wie sehr Bachs Musik jene radikale Erneuerung prägt, die wir Beethovens dritte Schaffensperiode nennen. Die Werke dieser Phase sind in ihrer Dimension zugleich intim und kosmisch, streng polyfon und flüchtig improvisatorisch. Ihre wilde Erfindungsgabe und das Überschreiten tradierter Formen wurzeln in einer tiefen Auseinandersetzung mit barocken Elementen. Sie sind Musik der Zukunft, und doch leben sie von der Musik der Vergangenheit – der Musik Bachs.
Nach ein paar Tagen in meinem Studio entschied ich mich gegen die bewährte Praxis, diese drei großen letzten Sonaten gemeinsam aufzunehmen und zu veröffentlichen. Es gibt einige wunderbare Einspielungen der „drei Schwestern“ im Katalog, aber ich hatte das Gefühl, dass das Spielen – und Hören – aller drei in Folge im Moment nicht der beste Weg wäre, um sich ihnen zu nähern.
Nur eine dieser Sonaten ins Zentrum meines Programms zu stellen, eröffnet mir die Möglichkeit, in ihrem Orbit neue Perspektiven auf sie zu gewinnen und zugleich ihrem Einfluss auf andere Werke nachzugehen. Da sich das Album auf die Sonate op. 109 (Nr. 30) konzentriert, erkunde ich, welcher Weg zu diesem Werk geführt hat, was sonst noch zur Zeit seiner Entstehung (1820) geschah und wie diese Entwicklungen andere Komponisten beeinflussten. Zuvorderst aber folge ich dem Lustprinzip und mache die Art von Album, die ich selbst gern hören würde.
Beethoven und Schubert
Die Wahl der Tonarten spielt für mich bei der Programmgestaltung und beim Zusammenstellen von Alben seit jeher eine große Rolle. Vielleicht hängt das mit meiner Synästhesie zusammen – den Ton E etwa nehme ich als grün wahr, Werke in E-Dur wie in e-Moll haben für mich unterschiedliche Grünschattierungen, von dunkel und üppig bis hell und leuchtend. Ich finde es spannend, die Parallelen auszuloten, die innerhalb einer bestimmten Tonart im Œuvre eines Komponisten entstehen; im Fall von op. 109 führten mich diese Überlegungen zur e-Moll-Sonate op. 90 (Nr. 27), die sechs Jahre früher entstand.
Wie sich herausstellt, teilen die beiden Werke mehr als nur das Wechselspiel zwischen E-Dur und e-Moll. Die vermeintlich kompakte, doch überaus fantasievolle zweisätzige Sonate op. 90 wirkt in vielerlei Hinsicht wie ein Vorläufer von op. 109. Vielen sind die kontrastierenden Elemente aufgefallen, die in diesem subtil experimentellen Werk zum Tragen kommen – ein Ringen zwischen Kopf und Herz, Prosa und Poesie, Rede und Gesang, wie sie es beschrieben haben. Der erste der beiden Sätze ist in seiner Struktur fragmentarisch und grüblerisch, voller unerwarteter Wendungen und abrupter Affektwechsel. Was mich jedoch vor allem zu diesem Werk hingezogen hat, ist der zweite Satz, das Rondo in E-Dur, in dem alle vorangegangenen Stürme durch eine klangvolle, zärtliche Melodie besänftigt werden. In meiner Vorstellung gehört diese Musik zur selben warmen und liebenswürdigen Seite Beethovens wie die Ecksätze von op. 109, die ebenfalls in dieser Tonart geschrieben sind.
Als ich Beethovens op. 90 wieder und wieder in meinem Studio spielte und in den Kontrasten und Nuancen seiner Musik schwelgte, kam mir eine vage Erinnerung aus meinen Teenagerjahren an der Musikschule in Reykjavík in den Sinn – an einen Freund, der den ersten Satz einer frühen Klaviersonate von Franz Schubert spielte. Ich hatte sie seitdem nie wieder gehört oder im Programm eines Konzerts gefunden. Irgendwann ging mir auf, dass es sich um Schuberts Klaviersonate e-Moll D 566 gehandelt hatte. Der damals zwanzigjährige Komponist schrieb sie 1817, zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Beethovens op. 90, in ihrer gemeinsamen Heimatstadt Wien.
Schuberts Sonate zum ersten Mal selbst durchzuspielen war wie eine Offenbarung. Hier war eine auffallend schöne, aber allgemein übersehene Schubert-Sonate, die sich vor aller Augen verborgen zu haben schien: ein kleines Juwel, das trotz seiner Kürze sowohl die kontemplative Tiefe als auch die sangliche, zeitlose Weite der späteren Klaviersonaten des Komponisten enthielt. Die Sonate gilt als unvollendet, und auch deshalb ist sie selten im Konzertsaal zu hören. Seit ihren frühesten, posthumen Ausgaben haben Gelehrte versucht, ihre zwei vollständig ausgeführten Sätze in e-Moll und E-Dur zu einer viersätzigen Struktur zu ergänzen, was meines Erachtens nicht gelang. Als ich sie neben Beethovens op. 90 spielte und die melodiösen zweiten Sätze beider Werke verglich, wurde mir klar: Schuberts D 566 muss nicht als Fragment verstanden werden, sie überzeugt als vollkommene, mit sicherer Hand gestaltete zweisätzige Sonate nach dem Vorbild Beethovens.
Nicht ein Bach, sondern ein Meer
Wenn Beethovens Einfluss Schubert zu künstlerischer Reife verhalf, so war Bach der Kompass auf Beethovens Reise ins Unbekannte. Beethoven studierte Bach ein Leben lang und kopierte dessen Werke, um sich deren Techniken anzueignen. Eine berühmte Legende (wohl zu schön, um wahr zu sein) überliefert Beethovens Wortspiel: „Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen – wegen seines unendlichen, unerschöpflichen Reichtums an Tonkombinationen und Harmonien.“
Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen – wegen seines unendlichen, unerschöpflichen Reichtums an Tonkombinationen und Harmonien.
Etwas von diesem weiten Ozean spüre ich in Bachs letzter, monumentaler Partita Nr. 6 e-Moll BWV 830, die ich zwischen Beethovens op. 90 und Schuberts D 566 gestellt habe, um den beiden Raum zu geben. In einem Programm, das um Beethovens op. 109 kreist, fällt auf, wie auch Bach in seiner letzten Partita die Grenzen der gewählten Form erweitert und überschreitet, indem er die ursprünglich dem Tanz entlehnten Elemente in formale Abstraktionen übersetzt, die frei in unbekanntes musikalisches Terrain vorstoßen. Man denke etwa an die bemerkenswerte Eröffnungs-Toccata – die über weite Strecken eigentlich gar keine Toccata, sondern eine Fuge ist. Oder an das Air, das in spielerischer Umkehrung gerade der instrumentalste, unliedhafteste Satz des ganzen Werks ist. Oder an das Tempo di Gavotta – ist das wirklich eine Gavotte? Eine Gigue im Vierer- statt im traditionellen Dreiertakt? Solche offenen Fragen öffneten die Form für kommende Generationen.
Jenseits aller Rechtfertigung
In seinen Ausführungen über die letzten drei Klaviersonaten Beethovens warnte Glenn Gould davor, den Werken großer Komponisten Perioden überzustülpen oder ihre späten Kompositionen in einer bestimmten Gattung als monumentalisierte Vermächtnisse zu überhöhen – zu Recht wies er darauf hin, dass Komponisten gewöhnlich nicht planen, dass irgendein Werk ihr letztes sein wird. Doch abgesehen von der Gefahr des Klischees gibt es in Beethovens letzten Klaviersonaten etwas, das unverkennbar einem „Spätstil“ zuzurechnen ist, einem Reich der Kreativität, das man nur durch Erfahrung betritt. Es ist die Musik eines Menschen, der sich mit Vergänglichkeit abfinden muss – von öffentlicher Anerkennung, Patronage, Glück und Gesundheit. Die Musik eines Menschen, dessen schöpferische und technische Meisterschaft jetzt die Tradition transzendiert, aber auch den jugendlichen Drang hinter sich lässt, gegen diese Tradition zu rebellieren. Die Musik eines Menschen, der nichts mehr beweisen muss.
Dieses Gefühl habe ich, wenn ich die unprätentiöse Eröffnung der Sonate op. 109 spiele – jenen sanften, natürlichen Lauf über die Klaviatur, der fast aus Bachs Wohltemperiertem Klavier stammen könnte (und einst womöglich tatsächlich als Klavieretüde konzipiert wurde), bevor die Musik durch den leidenschaftlichen, virtuos-expressiven Duktus des kontrastierenden Adagio espressivo zerrissen wird. Im ganzen Werk spürt man ein einzigartiges Nebeneinander barocker Disziplin und spontaner Freiheit – und je weiter das Stück voranschreitet und seine Originalität sich entfaltet, desto ausgeprägter wird die Präsenz Bachs. Man nehme etwa das feurige Prestissimo, das ohne Vorwarnung aus dem Schlussakkord des ersten Satzes hervorspringt: Seine nervöse Spannung wird von einer barocken Polyfonie getragen, in der eine Fülle kontrapunktischer Kunst Bach’scher Prägung zur Schau gestellt wird.
Und schließlich ist da der großartige, ehrfurchtgebietende dritte Satz, länger als die ersten beiden zusammen. Zum ersten Mal in Beethovens Klaviersonaten ist dieses Finale ein Variationensatz. Mir erscheint es wie eine tief empfundene Hommage an die Goldberg-Variationen. Genau wie in Bachs großem Werk ist das Eröffnungsthema hier eine anmutige Sarabande, die sich auf einen wilden Ritt der Verwandlung begibt und ungeahnte Höhen pianistischen Ausdrucks erreicht. Und wie in den Goldberg-Variationen kehrt diese Sarabande am Ende in all ihrer ursprünglichen, entwaffnenden Schlichtheit zurück. Dies war das einzige Mal, dass Beethoven Variationen mit dieser Art von zyklischer Wiederkehr des Themas schrieb, und wie bei den Goldberg-Variationen hat die Rückkehr des Themas am Schluss eine ganz besondere Wirkung. Kleinere, reizvolle Verweise finden sich zuhauf – man vergleiche etwa Variation 3 in op. 109 mit Variation 8 in den Goldberg-Variationen oder Variation 4 bei Beethoven mit Variation 3 bei Bach. Und da ist der Gebrauch sowohl erschütternder als auch stratosphärischer Triller in Beethovens kataklysmischer Schlussvariation, wie ein Widerhall von Bachs 28. Variation. Und, wie Bach, nutzt auch Beethoven die Offenheit der Variationenform, um seine musikalischen Ideen immer weiter zu entfalten.
Alpha und Omega
Ich habe mich entschieden, das Album mit Sätzen von Johann Sebastian Bach zu eröffnen und zu schließen. Das Album beginnt mit dem Präludium in E-Dur BWV 854 aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers. Dieses Präludium wird manchmal als Eröffnungssatz für die Französische Suite in E-Dur BWV 817 gespielt, deren Sarabande ich als abschließenden Segen ganz ans Ende gestellt habe.
Mittwoch, 12. November 2025 | 20:00 Uhr | Die Glocke, Großer SaalVíkingur ÓlafssonWerke von Beethoven, Bach und Schubert
€ 60,00 | 55,00 | 50,00 | 35,00 | 25,00 zzgl. VVKAbo MK entdecken
Beitrag von Víkingur Ólafsson
Die deutsche Übersetzung wurde freundlicherweise von der Deutschen Grammophon zur Verfügung gestellt.
